Logo agrarheute digitalmagazin

Artikel wird geladen

Warum Ernteprognosen nie stimmen

Halten die Erträge den Erwartungen stand? Wetteränderungen können und müssen regelmäßige Anpassungsreaktionen der Ertragsprognosen auslösen – und damit auch der erwarteten Erntemengen.

Auf den Punkt

  • Ernteschätzungen bestimmen mit, welchen Getreidepreis ein Landwirt erhält.
  • Doch Prognosen können sich im Zeitablauf gewaltig ändern - und damit die Getreidepreise.
  • Landwirte misstrauen den Daten deshalb oft. Meist geht es jedoch mit rechten Dingen zu.

Viele Ackerbauern sind sauer. Erst heißt es, die Getreideernte wird riesig. Doch dann bricht auf einmal die Produktion ein. Die Getreidepreise reagieren entsprechend: Erst geht es steil nach unten – und dann steigen die Kurse auf den höchsten Stand seit vielen Jahren.

Viele Landwirte fragen sich nun: Was kann man von solchen Prognosen halten? Wäre Kaffeesatzlesen nicht ebenso zuverlässig? Wie kann es überhaupt sein, dass das US-Landwirtschaftsministerium (USDA) in Washington über die Getreidepreise in Europa mitbestimmt? Nicht wenige Bauern befürchten zudem, dass die Daten manipuliert sein könnten – zum Nachteil der Erzeuger.

So einfach ist das jedoch nicht. Tatsächlich sind Prognosen besser als die Vorhersagen von Wahrsagern, aber sie sind eben keine exakte Vorhersage der Zukunft. Ein komplexes System von Befragungen, Schätzungen, Beobachtungen und Hochrechnungen bildet die Basis. Viele Personen und Institutionen sind an dem Prozess beteiligt.

Hinzu kommt: Riesige Unsicherheitsfaktoren wie das Wetter spielen eine entscheidende Rolle. Das gilt bei der Prognose der Anbaudaten, vor allem aber bei den erwarteten und ständig angepassten Ertragserwartungen. Das haben zuletzt sowohl die extrem vom Wetterphänomen La Niña beeinflusste Entwicklung in Südamerika als auch die massiven trockenheitsbedingten Korrekturen der US-Ernte gezeigt. Der Ökonom Thomas K. Bauer von der Universität Bonn sagt dazu: „Wenn ich einen Zeitpunkt prognostizieren will, der sehr nahe vor mir liegt, dann habe ich sehr viele Informationen, um eine gute Prognose abgeben zu können. Wenn der Zeitraum, für den ich etwas vorhersage, sehr weit in der Zukunft liegt, dann werde ich wahrscheinlich weit danebenliegen.“

Deshalb darf man Ernteprognosen nicht als statische Größe verstehen, sondern als einen dynamischen Prozess, der regelmäßig an die Realität – also meistens an die Auswirkungen des Wetters – angepasst werden muss. Das hat das Beispiel dieses Jahres eindrucksvoll gezeigt.

Verdacht auf Preismanipulation

Doch nicht nur Landwirte in Europa und Deutschland kritisieren die Ernteprognosen. Auch in den USA stehen die Ernte- und Anbauschätzungen oft massiv in der Kritik. „Während das USDA weltweit den Goldstandard für die Getreidemärkte darstellt, hat das Vertrauen der Landwirte in die Berichte leider abgenommen“, sagt Zippy Duvall, der Präsident des Farm Bureau, des größten Bauernverbandes in den USA.

In den Vereinigten Staaten haben sich die Agrarökonomen Darrel Good und Scott Irwin viele Jahre mit der Belastbarkeit der Prognosen des USDA befasst. Sie stellten fest: Abgesehen von inhaltlichen Missverständnissen äußern einige Landwirte die Überzeugung, dass das USDA eine versteckte Agenda für die Erstellung der Schätzungen hat. Diese „Agenda“ konzentriert sich danach „auf Preismanipulationen für eine Vielzahl von Zwecken.“

Good und Irwin sagen jedoch: „Ein mangelndes Verständnis der USDA-Methodik und der Glaube an eine versteckte Agenda hindern die Farmer vor allem daran, die Anbauflächen- und Ertragsprognosen richtig zu interpretieren und zu nutzen.“ Die Ökonomen sind überzeugt, dass die Landwirte von den Prognosen wesentlich mehr profitieren würden, wenn sie die Stärken und die Grenzen der Methodik besser verstünden.

Anbaudaten exakt erfassen

Die zentralen Fragen lauten deshalb: Wie entstehen die Prognosen, wie werden sie erhoben, wie sicher sind sie und wie stark beeinflussen sie die Getreidepreise – und am Ende auch das Verhalten der Bauern und das der übrigen Marktakteure?

Wichtige Grundlage für alle Ernteschätzungen sind die erwarteten Erträge.

Im Grunde ist die Basis für alle Ernteschätzungen in allen Ländern gleich. Den Ausgangspunkt bilden Anbauschätzungen für die Aussaatfläche im Herbst oder im Frühjahr. Hierzu werden meist Landwirte zu ihren Anbauabsichten befragt. „Die Aussagekraft der Berichte hängt auch von der uneingeschränkten und umfassenden Beteiligung der Landwirte an der Datenerfassung ab. Je robuster die Daten sind, desto zuverlässiger sind die Berichte“, sagt der Chefökonom des American Farm Bureau, John Newton. Das gilt für die EU und andere Regionen der Welt genauso.

Hinzu kommen Satellitenbeobachtungen und neuerdings die Erfassung der Kulturen durch Drohnen und andere moderne Technologien. Die Anbaudaten werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert – durch weitere Befragungen und Messungen. In Europa war zum Beispiel schon sehr früh zu erkennen, dass die Anbaufläche von Winterweizen für die Ernte 2020 – also im Herbst 2019 – deutlich kleiner wird als im Vorjahr.

Der Grund war das Wetter. Die Herbstaussaat war infolge massiver Regenfälle beispielsweise in Frankreich nur sehr eingeschränkt möglich.

Die Welt ist ein Markt

Die zweite wichtige Grundlage für die Ernteschätzungen sind die erwarteten Erträge. Diese hängen jedoch vom Wetter im Verlauf der Wachstumsperiode ab. Man denke nur an die Trockenphasen in den letzten drei Jahre oder auch an die Überflutungen in den USA oder den Kälteeinbruch in diesem Winter.

Die erste sehr frühe Schätzung der Getreideernte basiert jedenfalls auf der bis dahin unterstellten Anbaufläche und den längerfristigen Durchschnittserträgen. Bei Weizen liegt dieser in Europa bei 5,76 t/ha. Entsprechend schlecht – wegen der sehr kleinen Anbaufläche – waren die frühen Ernteprognosen für Europa, Frankreich und Deutschland.

In anderen Weltregionen sah es zu diesem Zeitpunkt völlig anders aus. Dort waren die Anbauflächen oft erheblich größer als im Jahr zuvor. Das traf unter anderem für die Topexporteure Russland, Australien, Kanada, Brasilien und Argentinien zu – sowie für die sehr großen Produzenten und Verbraucher Indien und China. So kam es dazu, dass die globale Getreideernte – auf dem Papier – riesig aussah.

Nicht außer Acht lassen darf man, dass der Getreidemarkt global sehr stark vernetzt ist. Die Preise bilden sich deshalb an den wichtigsten Exporthandelsplätzen. Immerhin verkaufen die Europäer fast ein Viertel ihrer Weizenernte am Weltmarkt und die Russen sogar mehr als die Hälfte. Auch Deutschland exportiert bis zur Hälfte seines Weizens, einen Großteil davon in andere EU-Länder. Das hat natürlich Einfluss auf die Preise im Inland.

Hinzu kommt: Der Terminmarkt bildet die kleinste Änderung in den Daten – und vor allem die Marktstimmung – sofort ab. Im Idealfall stecken alle Informationen in den Terminpreisen. Jeder Landwirt und Marktakteur kann sich daran orientieren und seine Vermarktungsstrategie an die sich ändernden Bedingungen anpassen.

Das Wetter macht den Preis

Eigentlich ist bis dahin alles klar – und bei normalen Bedingungen ändern sich die angezeigten Preise und Prognosen nur wenig. Nun kommt aber erneut das Wetter ins Spiel: Es steckt hinter den meisten Marktbewegungen, sagt der US-Analyst Jerry Gulke. „Das Wetter ist für 75 Prozent der Preisveränderungen verantwortlich“, glaubt der Analyst – wenn die Anbauflächen feststehen. Wetteränderungen können und müssen regelmäßige Anpassungsreaktionen der Ertragsprognosen auslösen – und damit auch der erwarteten Erntemengen. Das ist zuletzt in Frankreich geschehen, aber auch in Südamerika, den USA und in China.

In Europa hatte das sehr trockene Frühjahr 2020 für weit nach unten korrigierte Ertragserwartungen bei Wintergetreide gesorgt. Die EU-Kommission senkte ihre Ernteschätzung für Weizen und Gerste deutlich.

In Südamerika führte die durch La Niña bedingte Trockenheit – während der Hauptwachstumsperiode – zum Teil zu heftigen Reaktionen des Marktes, obwohl die Produktion wegen der großen Anbaufläche zunächst sehr groß erwartet wurde.

Das Wetter in den USA bewegte die globalen Preise für Getreide und Ölsaaten ebenfalls heftig, denn im Mittleren Westen war es heiß und trocken. Die Ernte schrumpfte und schrumpfte.

Obendrauf kommen dann Dinge, die sich kaum oder gar nicht vorhersagen lassen, etwa politische und ökonomische Risiken. Dazu zählen: Coronafolgen, Handelskriege, Exportzölle, Ausfuhrkontingente, Wirtschaftskrisen, Wechselkurse sowie aktuelle Bestands- und Handelsdaten.

In diesem Jahr treibt außerdem der gewaltige Getreidehunger Chinas die Märkte an. Peking baut seinen durch die Afrikanische Schweinepest (ASP) stark dezimierten Schweinebestand im Schnellzugtempo wieder auf. Dafür braucht man gewaltige Mengen Getreide, wie die Rekordpreise am chinesischen Inlandsmarkt und die rekordhohen Importe von Mais, Soja, Weizen und Gerste zeigen.

Daten verstehen und nutzen

Bleibt noch die Kritik an den Institutionen, die die Ernteschätzungen vornehmen. Vor allem das USDA steht im Brennpunkt. Der Grund ist einfach: Kein Erntebericht der Welt beeinflusst Märkte und Preise so sehr wie ein USDA-Report. Das liegt auch daran, dass dieser Report von den Marktakteuren – trotz aller Kritik – als verbindliche Arbeitsgrundlage akzeptiert wird. Andere Schätzungen werden zwar beachtet – etwa vom Internationalen Getreiderat (IGC) oder der EU-Kommission. Ihr Einfluss auf die Märkte ist jedoch gering. Das heißt auch, dass Ihre Bedeutung von den Marktakteuren nicht allzu hoch eingeschätzt wird. Korrekturen des USDA führen hingegen oft zu großen Preissprüngen.

Good und Irwin haben mehrfach die Genauigkeit der USDA-Prognosen mit den endgültigen Ernteergebnissen verglichen. Dabei kamen sie zu dem Fazit: „Die mit den Ertragsprognosen verbundenen Fehler waren gelegentlich durchaus groß, wie etwa 1993 und 1995. Diese Fehler waren wegen der außergewöhnlichen Wetterereignisse in diesen Jahren aber nicht überraschend.“ Gleichzeitig stellen die beiden Ökonomen fest: „Alle Daten deuten auf einen deutlichen Abwärtstrend des Prognosefehlers im Zeitverlauf hin. Besonders wichtig ist es deshalb für Landwirte, die Daten zu verstehen und für sich zu nutzen.“ ●

Digitale Ausgabe agrarheute

Schön, dass Sie in die digitale agrarheute reingelesen haben. Ihr überregionales Fachmagazin für moderne Landwirtschaft liefert Ihnen jeden Monat Informationen aus Politik, Technik und Tierhaltung und Ackerbau. So bleibt Ihnen mehr Zeit für das Wesentliche: die Landwirtschaft.

✔ Immer und überall verfügbar
✔ Artikel teilen
✔ Zusätzliche digitale Inhalte gegenüber der gedruckten Ausgabe
✔ Artikel merken und später lesen