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Wenn jeder Handgriff schmerzt

Auf den Punkt

  • Das Karpaltunnelsyndrom zählt für Landwirte zu den Berufskrankheiten.
  • In einigen Fällen bleiben Beschwerden nach einer Operation bestehen.
  • Manuelle Behandlungsformen und Übungen sind oft ähnlich wirksam wie eine OP.

Der feste Griff um die Zitze ließ den Schmerz erstmals durch ihre Hand fahren. Seit Monaten schon spürte Ingrid Göttsberger immer wieder so ein Kribbeln in den Fingern, als würde ihre Hand einschlafen. Nun löste jeder zweite Handgriff beim Melken Schmerzen an der Handinnenseite aus. Auch die linke Hand begann irgendwann zu schmerzen. Nach und nach ließ die Kraft in den Händen nach und die Landwirtin suchte einen Arzt auf.

Die Diagnose: Karpaltunnelsyndrom. Das Problem kennen vor allem Menschen, die unter hohem Krafteinsatz viel mit den Händen arbeiten. Deshalb zählt das Karpaltunnelsyndrom auch zu den Berufskrankheiten der Branche. Insbesondere bei Melkarbeiten werden die Finger unnatürlich oft gebeugt, aber viel zu wenig gestreckt. Wer solche Beugebewegungen täglich absolviert, bringt mit der Zeit hohe Spannungen in die Muskeln und Faszien seines Unterarms. Die Muskeln „verkürzen“ sich und die Sehnen im Unterarm müssen dadurch immer größere Kräfte in die Hand und in die Finger übertragen.

Das steckt hinter dem Schmerz

Der Übeltäter ist der Mittelarmnerv. Der sogenannten Nervus medianus meldet sich schmerzhaft, wenn es ihm im Karpaltunnel, ein knöchernes Nadelöhr im Handgelenk, zu eng wird. Das passiert zum Beispiel, wenn durch hohe Belastung und ständige Reizungen die Sehnen und das Karpalband anschwellen und den darunterliegenden Nerv einklemmen.

Erste Anzeichen sind Gefühlsstörungen wie Ameisenlaufen und Taubheitsgefühle. Sie treten gerne mal nachts oder früh morgens auf. Kommen Schmerzen dazu, ist dies ein deutliches Warnsignal, dass der Nerv gequetscht wird. Betroffenen fällt dann selbst das Halten einer Kaffeetasse schwer. Spätestens jetzt sollte gehandelt werden, sonst kann es zu irreversiblen Schädigungen des Nervs kommen. Im weiteren Verlauf kann es zum Verlust des Tastsinns und der Feinmotorik führen, im schlimmsten Fall zu Lähmungserscheinungen und Muskelschwund.

OP – ja oder nein?

Das Karpaltunnelsyndrom war bei Ingrid Göttsberger schon weit fortgeschritten. Das zeigte die Messung der Leitfähigkeit des Nervus medianus. Bei einer Druckschädigung des Nervs ist die Nervenleitungsgeschwindigkeit vermindert. Der Arzt riet ihr zu einem operativen Eingriff. So ließ sie zuerst die rechte Hand operieren.

Die Operation liegt bereits fünf Jahre zurück. Die Taubheitsgefühle und gelegentliche Schmerzen sind jedoch geblieben. Man riet ihr zu einem weiteren, diesmal minimal-invasiven Eingriff. Sie lehnte ab. „Die Ärzte konnten mir nicht zusagen, dass es dann besser wird, und ich wäre wieder für mindestens sechs Wochen ausgefallen.“

Über ein Jahr danach musste sie beim Melken eine Schiene tragen. Die Feinmotorik ist bis heute nicht ganz hergestellt. „Ich kann zum Beispiel keinen Rosenkohl mehr schälen.“ Für die linke Hand kommt für sie keine OP infrage. „Krankengymnastik und Ergotherapie helfen ganz gut“, so ihr Fazit.

Karpalband: Straffes Gewebe wird bei der Operation durchtrennt und entlastet so den Nerv.

Ein Grund, warum eine OP nicht immer zum gewünschten Erfolg führt, ist, dass „durch die operative Durchtrennung des Karpalbands die Ursache des Reizsyndroms meist nicht beseitigt wird, da die zu hohen Spannungen der beteiligten Muskeln und Sehnen nicht ausgeglichen werden“, erklärt Schmerzspezialist Roland Liebscher-Bracht. Werde die Hand nach der OP wieder in gleicher Weise belastet, bauten sich die Spannungen wieder auf und die Symptome kehren zurück. Das Tragen einer Schiene über einen längeren Zeitraum sieht der Schmerzspezialist kritisch. „Alles, was den Körper von außen stützt, schwächt die Muskeln und Faszien. Das kann einer nachhaltigen Heilung im Wege stehen.“

Ursache beheben

Bei entsprechend belastenden Arbeiten wie Melken, sei es daher ratsam, regelmäßig ausgleichende Übungen für Muskeln und Faszien zu machen. Schmerzexperte Liebscher-Bracht empfiehlt dafür gezielte Dehnübungen, bei denen die Beuger gedehnt werden und das Handgelenk überstreckt wird. „Damit werden die Spannungen der Muskeln und Faszien normalisiert und die Sehnen im Karpaltunnel können auf natürliche Weise abschwellen.“ Um die angesammelte Flüssigkeit in Bewegung zu bringen und den Stoffwechsel im Gewebe anzukurbeln, helfen Massagen mit der Faszienrolle. So ließe sich mit regelmäßiger Praxis in vielen Fällen eine OP vermeiden.

Eine medizinische Studie (EFIC/2017) mit hundert Probanten mit Karpaltunnelsyndrom hat bestätigt, dass manuelle Behandlungsformen über einen Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten ähnlich wirksam sind wie eine OP. ●

Krankheitsverlauf und Therapiemöglichkeiten

Auftreten
Das Karpaltunnelsyndrom tritt meist erst ab einem Alter von 35 Jahren auf. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Menschen, die viel mit den Händen arbeiten zählen zur Risikogruppe. Pro Jahr bekommen schätzungsweise 3 von 1.000 Personen ein Karpaltunnelsyndrom.

Krankheitsverlauf
Meist kündigt sich das Karpaltunnelsyndrom mit Kribbeln in den Händen an, als ob die Hand eingeschlafen wäre. Zu Beginn treten die Symptome oft nur zeitweise auf und verschwinden dann wieder. Bei Fortschreiten der Krankheit kommen dauerhaft Schmerzen und Taubheitsgefühle dazu.
Im Spätstadium kann es zu Muskelschwund am Daumenballen kommen. Die Kraft in den Händen schwindet zunehmend, so dass  selbst das Halten einer Kaffeetasse für Erkrankte schwierig wird.

Typische Symptome

  • Kribbeln und Missempfindungen
  • Einschlafen der Hand
  • Taubheitsgefühle
  • Daumen- und Handschmerzen
  • in den Arm ausstrahlende Schmerzen
  • verminderter Tastsinn und Motorik
  • zunehmende Kraftlosigkeit
  • Muskelschwund und -verkürzungen

Konversative Therapien
Bei Schmerzen in der Nacht hilft eine Schiene, das Handgelenk in einer neutralen Position ruhigzustellen und den Mittelarmnerv zu entlasten. Kälteanwendungen wirken bei Entzündungen der Nerven schmerzlindernd. Der Arzt kann ein lokal wirkendes Schmerzmittel oder Kortison in die betroffene Stelle auf der Innenseite des Handgelenks spritzen. Diese Maßnahme wirkt schmerzstillend, entzündungshemmend und abschwellend, bekämpft jedoch nur die Symptome und nicht die Ursache.  

Manuelle Therapien
Gute Erfolge lassen sich mit Physiotherapie und Krankengymnastik erzielen. Gezielte Übungen, die dehnen und kräftigen, helfen, die Ursache zu bekämpfen und die zu hohen Spannungen der Muskeln und Faszien zu normalisieren. Eine Schonhaltung verschlimmert auf Dauer die Symptomatik.

Operation
Wenn mithilfe konservativer Maßnahmen über einen längeren Zeitraum keine Besserung eintritt,  empfehlen Ärzte einen operativen Eingriff, damit es nicht zu einer dauerhaften Schädigung des Mittelarmnervs kommt.
Um den Nerv zu entlasten, entfernt der Operateur einengende Gewebestrukturen wie übermäßig gewachsenes Bindegewebe. Ist eine Verdickung des Karpalbands für die Nervenkompression verantwortlich, wird es mit einem Schnitt durchtrennt.

Heilung nach einer OP
Nach einer OP sollte die Hand zwar leicht bewegt, aber die ersten sechs Wochen nicht belastet werden. Als Belastung gilt dabei alles, was über das Heben einer Kaffeetasse hinausgeht, so die Faustregel. Wird die Hand zu früh zu stark belastet, kann sich das durch Schmerzen und Schwellungen bemerkbar machen.

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