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Ein Dorf rettet den Wirt

Der Metzgerwirt in Giggenhausen ist für die Gemeinde ein wichtiger Treffpunkt.

Auf den Punkt

  • In den letzten 20 Jahren ist die Zahl der Schankwirtschaften massiv zurückgegangen.
  • Neben Corona sind die Gründe für das Wirtshaussterben vielfältig.
  • Zur Rettung ihrer Dorfwirtschaft gründet ein Dorf eine Genossenschaft.

Wer Sonntagabend durch das 600-Seelen-Dorf Giggenhausen spaziert, kommt am Metzgerwirt nicht vorbei. Durch die Fenster fällt warmes Licht, drinnen herrscht fröhliche Stimmung. „Hoch soll er leben, hoch soll er leben!“ Mehrere Herren trällern ein Ständchen und stoßen zum Wohle eines Jubilars an. In der holzvertäfelten Gastwirtschaft ist kein Tisch frei. Jung und Alt sitzen zusammen, Gläser klirren, der Laden brummt. Dabei ist die Dorfwirtschaft im oberbayerischen Landkreis Neufahrn bei Freising praktisch schon seit Wochen geschlossen. Für den traditionellen Sonntagsstammtisch jedoch sperrt Wirtin Elisabeth Kratzer noch auf.

Seit 27 Jahren betreibt sie den Metzgerwirt, gesellschaftlicher Dreh- und Angelpunkt des Dorfes. Aber Lisi, wie sie hier alle nennen, hat keine Lust mehr. Sie geht auf die 60 zu und möchte kürzertreten. Aufhören wollte die leidenschaftliche Wirtin eigentlich noch nicht. „Du findest ja kein Personal und dann noch die ganze Bürokratie und Auflagen, die immer mehr werden, vor allem mit Corona“, so sagt sie. Das alles hat sie zum Entschluss bewegt, den Metzgerwirt aufzugeben.

Für Giggenhausen ist das Ende des Metzgerwirts eine Tragödie, denn für viele Dorfbewohner ist das Gasthaus eine zweite Heimat. „Der Metzgerwirt ist mehr als nur eine Wirtschaft. Er ist eine soziale Institution“, sagt Rudolf Geil, pensionierter Landwirt und Mitglied des Giggenhausener Schützenvereins, der im Wirtskeller seinen Schießstand hat.

Wirtshaussterben auf dem Land

So wie Giggenhausen ergeht es vielen Dörfern. Vielerorts hat die letzte Dorfwirtschaft längst zugesperrt, denn nicht erst seit Corona grassiert das Wirtesterben. „Rund ein Viertel aller bayerischen Gemeinden müssen mittlerweile ohne Wirtshaus auskommen“, berichtet der Gaststättenverband DEHOGA Bayern e.V.

Nicht nur im Freistaat schließen Schank- und Dorfwirtschaften. Laut Zahlen des statistischen Bundesamts hat seit Ende den 90er-Jahre bundesweit rund jede zweite Schankwirtschaft dicht gemacht. Wie viele nach der Pandemie nicht mehr aufsperren, ist zahlenmäßig bisher nicht absehbar, aber es dürften nicht wenige sein.

„Die Corona-Pandemie hat die angespannte Lage der Landgastronomie verschärft. So hat das Gastgewerbe seit Beginn der Pandemie 70 Mrd. Euro Umsatz und fast 100.000 Mitarbeiter verloren“, erklärt Ingrid Hartges, Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbands DEHOGA.

Gründe für das Wirtesterben

Die Gründe für das Wirtshaussterben sind laut Gaststättenverband vielfältig. Die Ertragslage der Gastrobranche sei nicht erst seit Corona angespannt. Schon vor der Pandemie war die Gastronomie eine der Branchen mit den geringsten Rücklagen und der geringsten Eigenkapitalquote. Aber es ist nicht immer die Pleite, warum Dorfwirtschaften schließen. In vielen Fällen findet sich kein Nachfolger. „Wenn du ein Wirtshaus am Dorf betreibst, gibt es keine geregelten Arbeitszeiten. Da gibt es auch im ländlichen Raum attraktivere Chancen am Arbeitsmarkt“, sagt Kreisobmann des bayerischen Bauernverbands Hans Koller, der eine Dorfwirtschaft im Landkreis Passau betreibt. Die Pandemie hat den Personalmangel verschärft. Während der Lockdownmonate haben sich viele gastronomische Arbeitskräfte eine neue Stelle außerhalb der Gastronomie gesucht.

Wenn man nicht mehr in Kontakt kommt, wird man einander fremd.

Prof. Dr. Marc Redepenning, Sozialgeograf

Nicht nur Landwirte kennen die Bürde einer stetig zunehmenden Bürokratie, auch Gastwirte klagen über umfassende Dokumentationspflichten. Laut Berechnungen des DEHOGA Bayern braucht ein Wirt im Schnitt 13 Stunden in der Woche für alle geforderten Dokumentationen. Auch das Gästeverhalten habe sich geändert. „Früher sind die Arbeiter nach Feierabend oft noch für ein Bier ins Wirtshaus gegangen. Das ist aufgrund eines veränderten Familienbilds nicht mehr so“, sagt Koller. Nicht zuletzt machen Vereinsheime und -veranstaltungen den Wirtshäusern nicht selten Konkurrenz.

„Wo die Wirtschaft stirbt, stirbt der Ort“, heißt es in einer Studie zur Wirtshauskultur in Bayern der Universität Eichstätt-Ingolstadt. Sie habe wichtige gesellschaftliche Funktionen. „Das Wirtshaus stellt lokale Identität her und ist ein wichtiger öffentlicher Raum, in dem man sich trifft, austauscht und wo auch mal gestritten wird“, sagt Sozialgeograf Prof. Dr. Marc Redepenning der Universität Bamberg. Der Austausch sei wichtig, um sich nicht fremd zu werden. „Wenn man nicht mehr in Kontakt kommt, wird man einander fremd.“ Das befeuere die Gerüchteküche.

Genossenschaft kauft Wirtshaus

Als Ort für politische und kulturelle Veranstaltungen spielt das Wirtshaus in vielen Ortschaften zudem eine tragende Rolle. So auch beim Metzgerwirt. Schützenverein, Gesangsverein, Oldtimerverein, Oma- und Opaverein, 12 Vereine haben hier ihr Zuhause. Vor Corona gab es keinen Tag der Woche, wo keine Veranstaltung stattfand.

Dass ihre Vereine heimatlos werden, das wollten die Giggenhausener nicht zulassen. „Wir waren uns einig, dass diese Immobilie im Speckgürtel Münchens auf keinen Fall in Investorenhände fallen darf“, so der ortsansässige Tierarzt Christopher Aichinger. Zusammen mit anderen hatte er die Idee, den Metzgerwirt im Wert von 2,5 Mio. Euro selbst zu kaufen. Doch wie sollte man so eine gewaltige Summe finanzieren? Mithilfe einer Genossenschaft: „Wenn jeder Dorfbewohner mindestens einen Tausender zusteuert, könnte es gehen.“ Gesagt, getan – an einem Septembertag im Corona-Jahr 2020 trommelten sie das Dorf auf einer Wiese zusammen und impften alle 115 Teilnehmer mit dem Genossenschaftsgedanken.

Jeden Sonntag treffen sich die Giggenhausener beim Stammtisch im Metzgerwirt.

Von Anfang an mit im Boot waren die Vereinsvorstände, die Landfrauen und die Landjugend „Uns war wichtig, dass wir auch die Jungen dabei haben“, so Aichinger. Es gründete sich das Team Dorfwirtschaft, eine Handvoll Menschen, die ehrenamtlich die Genossenschaftsgründung vorantrieben. Um Planungssicherheit zu haben, stellten sie beim Metzgerwirt und in der Kirche alte, schmiedeeiserne Wahlurnen auf, in die jeder seine Absichtserklärung mit der Höhe des zugesagten Genossenschaftsanteils hineinwerfen konnte.

Der pensionierte Landwirt Anton Ziegltrum war gleich dabei, so sagt er. „Ich habe auch gleich für meine vier Enkel eine Einlage gemacht.“ „Wir machen das ja nicht nur für uns, sondern auch für die nachfolgenden Generationen“, stimmt Rudolf Geil zu. Auch seine Kinder und Enkel sollen hier einmal ihre Hochzeiten, Vereinsfeste feiern und in geselliger Runde Kartenspielen können.

Ihre Zielsumme, 1 Mio. Euro, hatten sie so in kürzester Zeit zusammen. Einen Pächter haben sie auch schon in Aussicht. Im Pachtvertrag muss sich der neue Metzgerwirt verpflichten, dass alle Vereinsveranstaltungen weiterhin ihren Platz im Gasthaus haben. Mit dem Wirt steht und fällt die Institution Dorfwirtschaft. „Man muss die Rolle als Dorfwirt leben. Du bist ja für die Leute da. Das brauch schon ein Stück Idealismus“, sagt Koller. So hoffen die Giggenhausener, dass der neue Wirt so viel Leidenschaft mitbringt wie ihre Lisi.

„Genossenschaft verpflichtet, das ist ein Vorteil, denn alle Anteilseigner werden schon allein durch das Interesse am wirtschaftlichen Erfolg dort öfter einkehren“, so Prof. Redepenning. Die Wirtin freut sich, dass es weitergeht und ist gespannt, wer demnächst ihr Erbe antritt. „Ich wünsche mir, dass alle, die hier daheim sind, bleiben können.“ ●

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