„Mineralwasser ist teurer als Milch“
Auf den Punkt
- In Sachsen-Anhalt hat sich die Zahl der Milchviehbetriebe in den letzten zehn Jahren halbiert.
- Die Agrargenossenschaft Hedersleben hat im Frühjahr alle 300 Milchkühe abgegeben.
- Genossenschaftschef Trautmann wagt mit Mastrindern und Gewürzen einen Neuanfang.
Wer zum ersten Mal mit Lutz Trautmann über den Hof geht, bemerkt vielleicht gar nicht, dass etwas fehlt. Stattdessen sieht alles wohlgeordnet aus. Jetzt im Herbst fährt Trautmann die Thymianernte ein. Die Pflanzen kommen per Lkw in die Scheune. Das sieht und riecht man – ein Hauch des Gewürzes hängt in der Luft. Die großen, offenen Ställe aber, in denen früher Kühe standen, sind heute leer. Hier werden nun nach und nach Mastrinder aufgestallt. Lediglich dem Melkkarussell ist anzusehen, dass es schon monatelang stillsteht: Spinnweben hängen an den grauen Eisengeländern. Von oben fällt der Kot der Schwalben auf die Anlage. „Früher wurde hier jeden Tag gereinigt. Da waren die Schwalben kein Problem“, sagt Genossenschaftschef Trautmann.
Abschied von einer Tradition
Heute ist das Melkkarussell nur mehr eine Erinnerung. Eine andere Erinnerung an Landwirtschaft kam beim Bau des neuen Kartoffellagers zum Vorschein. Da machte die Agrargenossenschaft (AG) Hedersleben im Jahr 2013 einen interessanten archäologischen Fund. Beim Ausheben des Fundaments stießen die Baufirmen auf rund 7.000 Jahre alte sogenannte Langhäuser.
Die Menschen in der Jungsteinzeit bauten in der Vorharz-Region die ersten bäuerlichen Strukturen auf. „Dabei wurden auch Knochenreste von Rindern gefunden“, sagt Lutz Trautmann. Mensch und Tier lebten damals in einem Haus zusammen. Die Kühe hätten nicht nur Milch, Fleisch und Leder geliefert, sondern vermutlich auch das Haus beheizt.“
So zieht sich die Rinderhaltung durch die Jahrtausende. Im Dorf Hedersleben 40 km südwestlich von Magdeburg, im Jahr 978 erstmals urkundlich erwähnt, hat es wohl immer Kühe gegeben. Die heutige Agrargenossenschaft erwarb sie aus der Tierproduktion der ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG), die zu DDR-Zeiten Landwirtschaft in der Region betrieb. Immer gehörten Milchkühe zum Betrieb dazu. Bis jetzt. „Die Entscheidung, die Milchviehhaltung aufzugeben, ist uns auch mit Blick auf die Geschichte nicht leichtgefallen“, sagt Trautmann. Seine Schritte hallen in dem leeren Gebäude. Seit Anfang der 90er-Jahre habe das Unternehmen etliche Millionen D-Mark und Euro in Technik und neue Ställe investiert, an Protestaktionen für höhere Milchpreise teilgenommen, die Molkereien gewechselt und selbst Milchautomaten aufgestellt. Das Ergebnis ist aber ernüchternd geblieben. „Wir verdienen mit der aufwendigen Arbeit kein Geld.“ Anfang des Jahres beschloss die Genossenschaft, die Kühe abzugeben. Im Mai wurden die rund 300 Tiere verkauft.
31,5 Cent/kg habe der Betrieb im Frühjahr von der Molkerei für die Milch erhalten. „Das reicht nicht, um finanziell zu bestehen“, so Trautmann. Verantwortlich macht er dafür den Handel: „An der Tankstelle ist Mineralwasser vielfach teurer als Kakao. Milch ist ein Billigprodukt.“ Dem Landwirt ist der Zorn anzumerken.
Nach den Dürresommern 2018, 2019 und 2020 könne sein Unternehmen die Verluste nicht mehr tragen. Die Agrargenossenschaft Hedersleben sei hier kein Einzelfall, erklärt er und verlässt den verwaisten Stall
Strukturwandel wird sichtbar
Die Zahl der Milchviehbetriebe in Sachsen-Anhalt hat sich in den zurückliegenden zehn Jahren nahezu halbiert. Sie ging von 622 im Jahr 2010 um knapp 47 Prozent auf 330 Betriebe zurück. Das geht aus den Ergebnissen der Landwirtschaftszählung 2020 hervor. Die Zahl der Milchkühe sank laut Statistischem Landesamt im gleichen Zeitraum aber lediglich um 11,5 Prozent auf 109.000. Aber das passt zusammen: Der Strukturwandel in der Landwirtschaft wird gut sichtbar: Es gibt immer weniger, dafür aber größere Betriebe. Durchschnittlich hält ein Hof in Sachsen-Anhalt heute 330 Kühe.
Laut Agrarexperte Hauke Tergast vom Thünen-Institut aus Braunschweig geht deutschlandweit die Zahl der Milchviehbetriebe zurück. Die Milchproduktion steigt dagegen weiter an. „Während in Teilen von Sachsen-Anhalt auch die Milchproduktion tatsächlich abnimmt, gibt es gerade in den Küstenregionen von Niedersachsen und Schleswig-Holstein deutliche Zuwächse“, so Tergast. „Viele Betriebe in Sachsen-Anhalt betreiben neben der Tierhaltung auch Ackerbau“, so Tergast.
Nach drei Dürrejahren sei eine Quersubventionierung der Tierhaltung durch den Ackerbau schwierig geworden. Nach Ansicht des Agrarexperten helfen nur höhere Milchpreise, „um eine langfristige und nachhaltige Milchwirtschaft zu ermöglichen“.
Die Vielfalt in der Landwirtschaft nimmt ab. Eine Kreislaufwirtschaft ist vielerorts nicht mehr möglich.
An höhere Milchpreise glaubt Genossenschaftschef Trautmann aber nicht mehr. Im Vorjahr standen er und seine Kollegen noch gemeinsam mit ihren Treckern vor einem Lager des Discounters Lidl. „Dort heißt es, der Markt bestimmt die Preise, doch Lidl ist ein wichtiger Spieler im Markt“, sagt Trautmann.
Seine Haltung begründet er auch mit Gesprächen, die er beim Verkauf der Kühe geführt hat. „Die gingen an Höfe in den Niederlanden und nach Polen“, erzählt er. Der polnische Käufer habe ihm erklärt, dass er umgerechnet 40 Eurocent von der Molkerei für das Kilogramm Milch erhalte. „Warum sind die Preise in Polen deutlich höher?“, fragt Trautmann und gibt auch gleich die Antwort: „Weil die Marktmacht des Handels dort offenbar nicht so groß ist.“
Direktvermarktung schlug fehl
Die Agrargenossenschaft, die 4.500 ha Acker bewirtschaftet, hat versucht, einen Teil der Milch selbst zu vermarkten. Dazu wurden 2017 in Supermärkten sogenannte Milchtankstellen aufgestellt. „Anfangs kamen wir mit den Lieferungen kaum nach“, schildert Trautmann, während er den Thymianlastern beim Abladen zusieht. Doch nach und nach sei das Interesse der Kunden erlahmt. „Es ist doch bequemer, einen Tetra-Pack zu kaufen, als eine Flasche abzufüllen“, sagt der Landwirt. Für einen rentablen Betrieb hätten etwa 150 l Milch je Anlage und Tag verkauft werden müssen. „Am Ende waren es manchmal nur 20 bis 30 l pro Anlage“, so Trautmann. Die Kosten für die An- und Abfahrt der Milch sowie die Reinigung der Anlagen seien am Ende viel zu hoch gewesen.
Die Trockenheit der vergangenen Jahre machte auch den Anbau von eigenen Futterpflanzen nicht einfacher – viel Arbeit, wenig Ertrag. Hinzu kommen erhöhte Anforderungen an die Haltung in den Ställen hinsichtlich mehr Platz und Tierwohl. In Sachsen-Anhalt führt das vielerorts zu leeren Ställen. So auch bei der Agrargenossenschaft Könnern, die Hans-Jürgen Windirsch leitet.
Gleiches Schicksal in Könnern
Das Unternehmen in Könnern an der Saale hat bereits im Februar 2021 die Haltung von 300 Tieren aufgegeben. „Wir haben bei jedem verkauften Liter Milch 5 Cent draufgezahlt“, sagt Windirsch. Die Verluste hätten sich auf jährlich 150.000 Euro summiert.
Die Agrargenossenschaft, die 1.800 ha bewirtschaftet, steht nach seinen Angaben in den kommenden Jahren vor weiteren Veränderungen. Durch den Wegfall der Milchproduktion sank die Zahl der Mitarbeiter bereits von 29 auf 23. Künftig soll sich das Unternehmen auf den Ackerbau konzentrieren. „Viele Mitarbeiter gehen bald in Rente“, sagt der Firmenchef, der auch 60 Jahre alt ist. Ziel sei es, den Betrieb mittelfristig mit nur acht Mitarbeitern zu bewirtschaften. „Ohne Tiere ist das machbar“, ist Windirsch überzeugt.
„Die Vielfalt in der Landwirtschaft nimmt zusehends ab. Eine Kreislaufwirtschaft ist vielerorts nicht mehr möglich“, beklagt daher auch Sachsen-Anhalts Bauernpräsident Olaf Feuerborn. Schon heute müssten viele Betriebe Kunstdünger oder Dünger aus Biogasanlagen zukaufen. Das werde weiter zunehmen. Durch die Reduzierung der Tierhaltung gingen Wertschöpfungsketten verloren. Das betreffe auch die Nahrungsmittelindustrie.
Neue Wege sind nötig
Lutz Trautmann überquert den weitläufigen Hof und betritt die Verkaufshalle. Hier wurde mit viel Holz und Dekoration eine gemütliche Hofladen-Atmosphäre geschaffen. Es gibt Obst, Liköre, Saft, Kartoffeln und vieles mehr zu kaufen. Der Hofladen ist das Zukunftsprojekt der Agrargenossenschaft.
„In der Corona-Pandemie hatten wir einen großen Zulauf von Kunden“, sagt Trautmann. Aus der Verkaufshalle ist in den vergangenen Monaten ein kleiner Markt geworden. „Milchprodukte bekommen wir von einem Milchviehbetrieb, der eine eigene kleine Molkerei aufgebaut hat“, erläutert Trautmann.Trotz der Pleite mit den Milchtankstellen glaubt der Landwirt weiter an das Konzept mit regionalen Produkten. „Die Leute kaufen lieber regional, wenn der Preisabstand zu Supermarktprodukten nicht zu groß und der Einkauf bequem ist.“
Um es den Kunden noch einfacher zu machen, richtet der Agrarbetrieb aktuell einen Onlineshop ein. Seit einiger Zeit baut die Genossenschaft auch Nutzhanf an, den sie selbst zu Tee verarbeitet. „Wir haben damit auch Produkte, die überregional Nachfrage finden“, ist Trautmann überzeugt. Er will mit der Agrargenossenschaft neue Märkte erschließen. Die wachsende Direktvermarktung schafft neue Arbeitsplätze. Einen Stellenabbau plant die Genossenschaft in Hedersleben daher nicht. Die Mitarbeiter aus der Milchproduktion setzt der Betriebsleiter im Hofladen und demnächst bei den Mastrindern ein.
Das Kapitel Milchkühe ist für Lutz Trautmann jedoch „vorerst beendet“. Warum vorerst? Der Landwirt erklärt: „Dass tierische Produkte in Deutschland so günstig sind, liegt auch daran, dass große Mengen der Futtermittel importiert werden“, sagt er. „Sollte dieser ökologische Wahnsinn mal beendet werden, würden auch tierische Produkte wieder einen Preis erreichen, der ihre Qualität widerspiegelt“. Bis es aber soweit ist, steht das Melkkarussell in Hedersleben weiter still. (jls) ●
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