Aus der Feder von Susanne Wiborg

Wo sind sie geblieben?

13. April 2022

Eigentlich gibt es schon fast zu viele. Stiefmütterchen sind im Frühling allgegenwärtig, und auch sonst sind sie rekordverdächtig: „Wenn eine Blume dem Wunsche des Menschen nach Größenwirkung nachgegeben hat und das Übernatürlichste leistet, so ist es das Stiefmütterchen. Welcher Unterschied zwischen dem kleinen, kaum beachteten Ackerunkraut und den Stiefmütterchen der Neuzeit, zwischen Urahne und Urenkel,“ hieß es schon vor mehr als hundert Jahren. Ein Trend, der sich fortsetzte, bis hin zu den heutigen Riesenblüten, die manchmal aussehen, als seien sie selbst über ihre überdimensionierte Erscheinung erschrocken.

So schnell sie kommen, so schnell gehen sie auch wieder: Spätestens im Juni landet die ganze Pracht im Müll. Versuche, sie länger zu halten, scheitern meist daran, dass die Pflanzen bei Hitze komplett schlapp machen und eine zweite Blüte zum Herbst verweigern. So vermisse ich in dem Massenaufgebot immer mehr die Gartenstiefmütterchen meiner Kinderzeit: Näher kennengelernt habe ich die in einem großen Bauerngarten. Der hatte zwar einen Mittelweg aus sorgsam gestutztem Buchsbaum, ansonsten aber wenig mit den schick durchgestylten Rekonstruktionen gemein, denen man heute oft begegnet. Es war ein absoluter Nutzgarten: Beeren und Bohnen, Erbsen und Petersilie, Kohl, Karotten und Kartoffeln. Herrin über dieses fruchtbare Revier war Oma Kreipe, die Mutter unseres Hauswirts. Für mich war sie geradezu unvorstellbar alt, winzig, zäh, von lebenslanger schwerer Arbeit gekrümmt und immer unermüdlich. Sie war der Schrecken ihrer weit weniger fitten Schwiegertöchter, die sie gnadenlos zum Frondienst mit Spaten und Hacke verpflichtete. Zu mir war sie sehr nett, und so machte das freiwillige Helfen Spaß. Wir zupften gemeinsam Unkraut, pflückten Obst und Gemüse und sammelten die hübschen Schnirkelschnecken ab. Die durfte ich dann sogar anderswo wieder aussetzen, was für Oma Kreipe ein großes Entgegenkommen bedeutete.

Stiefmütterchen in allen Farbschattierungen, die sich munter untereinander kreuzten, von ganz hell bis ganz dunkel, mehrfarbig oder dunkel geadert.

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