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„Ich wollte zurück auf den Schlepper“

Nach dem Betriebsunfall arbeitet Landwirt Louis Stange täglich an sich. Sein klares Ziel: wieder auf dem Schlepper sitzen.

Es ist ein schöner Septembertag im vergangenen Jahr, Samstag, der 21., um genau zu sein. Auf dem Familienbetrieb Stange in Breitenberg bei Duderstadt (Landkreis Göttingen) läutet man nach den Vorbereitungen für die Weizenaussaat das Wochenende ein. Cornelia und Peter Stange trinken Kaffee auf ihrer Terrasse, als Sohn Louis Stange sich verabschiedet, um mit dem Fahrrad in seine naheliegende Wohnung zu fahren. Dabei kommt er an ihrer Maschinenhalle vorbei, die sie gerade aufwendig saniert haben. Am Dach fällt sein Blick auf ein paar Schrauben – die könnte er doch noch schnell nachziehen. Er stellt die Leiter an die Hallenwand und klettert los. „Was dann geschehen ist, weiß ich nicht mehr“, erzählt Louis Stange „Ob ich ins Trudeln kam oder ohnmächtig geworden bin, keine Ahnung.“

Er stürzt. Vier Meter in die Tiefe. Bei dieser Meterzahl hat der menschliche Körper Zeit sich zu drehen. Somit schlägt Louis Stange mit dem Kopf auf dem Boden auf. Das nächste, woran er sich erinnert, ist, dass er sich nicht mehr bewegen kann. Er hat keine Kontrolle über Arme, Beine und den restlichen Körper, gleichzeitig spürt er einen fürchterlich stechenden Nervenschmerz – überall.

Mit Heli in die Uniklink

Nachbar Stephan, der den Sturz vom Küchenfenster beobachtet hat, kommt sofort zu Hilfe, er alarmiert den Notarzt, dieser den Rettungshubschrauber. Und noch etwas macht Nachbar Stephan richtig, er bewegt den Schwerstverletzen Louis nicht. „Das war mein absolutes Glück“, so der Landwirt rückblickend.

Auch die Eltern sind mittlerweile am Unfallort. „Er ist tot“, erzählt Mutter Cornelia Stange, war ihr erster Gedanke, als sie ihren Sohn sieht. Mit dem Heli, der auf der frisch gesäten Gerste landet, wird der junge Landwirt sofort in die Uniklinik Göttingen geflogen. „Wäre er mal woanders runtergegangen“, kann Louis heute schmunzelnd sagen, „Danach haben wir uns über die geringere Ernte geärgert.“

In einer achtstündigen Not-Operation retten die Chirurgen Louis Stange das Leben. Sie fixieren den komplett zertrümmerten fünften Halswirbel, sodass der Druck nicht mehr auf dem Rückenmark lastet. Louis hat unfassbares Glück – die Ärzte stellen fest, dass sein Rückenmark nicht durchtrennt, sondern „nur“ extrem gequetscht ist. Sein Schicksal hing wortwörtlich an einem seidenen Faden. Wäre er bewegt worden, säße er wohl heute im Rollstuhl. Doch so lautet Louis Diagnose: Inkomplette Querschnittslähmung.

Als er nach der Operation aufwacht, ist nur eins für den Ackerbauern wichtig: Kann er laufen? Aufatmen – er merkt gleich, dass er seine Zehen wieder bewegen kann. Louis Stange sagt: „Ich wusste sofort, dass war knapp.“ Vater Peter Stange ergänzt: „Die Ärzte haben ein kleines Wunder vollbracht.“

Es folgt eine Tortour mit entsetzlichen Nervenschmerzen, einzig die Morphiumpumpe, in der Halsvene schafft Linderung. „Die Schmerzen waren so heftig, dass meine Mutter nicht mal meine Hand streicheln durfte. Alle Nerven waren irritiert, es tat einfach nur höllisch weh. Unbeschreiblich“, erinnert sich Louis. Zu dieser Zeit kann er nicht einmal die Arme benutzen, nicht selbst essen, geschweige denn sich allein im Bett drehen, um sich nicht wund zu liegen. „Da an Schlaf eh nicht zu denken war, bin ich nachts oft schon gegen zwei oder drei Uhr zu Louis ins Krankenhaus gefahren,“ erzählt Vater Peter Stange. 24 Stunden wacht die Familie abwechselnd an seinem Krankenbett, überhäuft ihn mit Liebe und Zuspruch.

So auch Louis Schwester Pia Stange, die sofort ihr Studium der Biotechnologie in Bremen pausiert. Oft liest sie ihrem Bruder vor, außerdem springt sie für ihn auf dem Familienbetrieb ein. Denn allein hätte Vater Peter Stange die Arbeit auf dem 245 Hektar großen Ackerbaubetrieb auf dem Gerste, Weizen, Raps und Erbsen angebaut werden, nicht bewältigen können. „Außerdem war unser Berufskollege Dieter die ganze Zeit zur Stelle“, ergänzen Sohn und Vater. „Er war sogar so selbstlos, dass er seine Felder hintenangestellt hat.“ Soviel Zusammenhalt macht die Familie bis heute sprachlos. Und sie ist sich einig: „Ohne Dieters Unterstützung hätten wir es nicht geschafft den Weizen unter so guten Bedingungen in die Erde zu bekommen. Diese Hilfe hat uns umgehauen und er hat nichts dafür erwartet.“

"Mein fünfter Halswirbel wurde komplett entfernt und durch einen künstlichen Wirbel ersetzt."
Landwirt Louis Stange

Nach einer Woche steht die nächste mehrstündige Operation, diesmal von der Kehlkopfseite, an. „Davor habe ich eine Patientenverfügung verfasst“, sagt der junge Landwirt. „Schließlich ging‘s wieder ans Rückenmark. Und eins war klar: Beatmet oder künstlich am Leben gehalten werden, wollte ich nicht.“ Auch diesmal sind kleine Götter in Weiß am Werk. „Mein fünfter Halswirbel wurde komplett entfernt und durch einen künstlichen ersetzt. Außerdem wurden die im Gewebe verstreuten Splitter im neuen Wirbelkörper platziert, sodass sie dort zusammenwachsen können“, erklärt Louis Stange. „Zusätzlich verbinden Titanplatten die Wirbel vier und sechs miteinander und geben meiner Halswirbelsäule Stabilität.“

Die heftige Narbe im Nacken wird Louis Stange immer an seinen Sturz und die komplizierten Operationen erinnern.

Monatelange Therapien

Für den nächsten Meilenstein im monatelangen Genesungskampf geht es Anfang Oktober ins berufsgenossenschaftliche Unfallkrankenhaus nach Hamburg, das ein spezielles Querschnittsgelähmtenzentrum hat. Dort wird Louis noch einmal bewusst, wie stark das Schicksal sich auf seine Seite geschlagen hat. „Ich war der einzige dort, der laufen kann. Ich habe Menschen kennengelernt, die nur noch die Augen bewegen konnten. Der restliche Körper war gelähmt.“ Die meisten der Patienten hatten einen Motorrad- oder Badeunfall. Laut Fördergemeinschaft der Querschnittsgelähmten in Deutschland e.V. leben 140.000 Menschen mit einer Querschnittlähmung in Deutschland, jährlich kommen rund 2.400 hinzu.

Doch auch für den Südniedersachsen gibt es jede Menge wiederzuerlernen. Viele Muskeln lassen sich über die Nerven nicht mehr richtig ansteuern, anfangs ist sogar das Halten der Zahnbürste unmöglich. Täglich arbeitet Louis Stange an sich und seiner Gesundheit. Aufgeben kommt für ihn nicht infrage. „Ich wollte wieder auf den Hof zurück, wieder auf dem Schlepper sitzen und den Betrieb demnächst komplett übernehmen“, erzählt Louis. So hatten er und sein Vater es vor dem Unfall besprochen. „Der Hof ist mein Leben!“ Agrarwissenschaften hat er als Backup studiert, aber er wollte nie etwas anderes, als den Hof zu übernehmen. Und Landwirt sein.

Also kämpft er sich mit der Hilfe von Ärzten, Therapeuten und Psychologen in Physio-, Ergo-, Freizeit- und Arbeitstherapie monatelang Schritt für Schritt zurück. Zu Anfang ist alles extrem anstrengend, doch sein Ehrgeiz und Wille treiben ihn weiter an. „Die Ärzte meinten, wenn mein Bruder durch seine körperliche Arbeit nicht so fit gewesen wäre, wäre die Heilung nicht so schnell und gut verlaufen“, erzählt die 24-jährige Pia. Die Klinikmitarbeiter, aber auch die Berufsgenossenschaft haben ihm alles ermöglicht, was ginge, so Louis. Von Rehamaßnahmen bis zum ergonomischen Schlepper-Sitz, der die Stoßwellen abfedert. „Jeder Cent, den man in die Genossenschaft einzahlt, ist es meiner Meinung nach wert.“

Einige Einschränkungen werden ihn sein Leben lang begleiten. „Ich habe kein Gefühl im linken Bein und in der rechten Hand kann ich die Finger nicht gerade ausstrecken“, erklärt er. Manchmal kommt es zu Spastiken in den Fingern und die Ausdauer ist auch eine andere. Der Nacken ist oft verkrampft und verspannt und Nicken funktioniert nicht. Langes Laufen fällt schwer und beim Ein- und Aussteigen ins Auto zittern die Beine. „Physio- und Ergotherapie werde ich wohl immer machen müssen. Da muss man dranbleiben, sonst wird die Motorik weniger“, gesteht sich Louis ein.

Doch er klagt nicht. Vielmehr erinnert er an einen zufriedenen, jungen Mann, der das Beste aus seinem neuen Leben machen will. Der sein Glück, seine zweite Chance, nutzen will.

So kehrt er auch schon Anfang Februar wieder auf den Hof zurück, startet Mitte März seine Wiedereingliederung und lässt sich ab ersten April – gerade mal sechs Monate nach dem Sturz – gesundschreiben. Denn auch die Psyche spielt mit, was bei so einem Schicksalsschlag nicht selbstverständlich ist. „Klar kratzt es an der Seele, wenn ich meinen Vater bitten muss, eine Schraube irgendwo reinzudrehen. Oder Oma und Opa mich fragen, ob sie helfen können, obwohl es andersherum sein müsste“, gesteht der Landwirt, doch er kann damit umgehen.

Freundin kennengelernt

Nur eins ist verwunderlich. Aber positiv verwunderlich. Er habe noch nie so gut geschlafen wie jetzt. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass er das Leben seit dem Unfall anders sieht. „Früher hatte ich auch häufiger mal schlechte Phasen, heute sehe ich das Positive im Tag. Ich rege mich weniger auf, bin zufriedener, lebe bewusster und nehme gute Momente stärker wahr“, erzählt Louis Stange. So halten Vater und Sohn auch an ihrem Plan fest, dass Louis in zwei bis drei Jahren den Hof übernimmt. Beide trauen ihm das zu. „Und wenn das in der LAND & FORST steht, hat mein Vater auch keine Ausrede mehr“, so Louis scherzend.

Und noch etwas hat sich zum Positiven gewendet: In der Reha in Hamburg hat Louis Stange seine Freundin kennengelernt. Als gebürtige Hamburgerin packt sie nun am Wochenende gerne auf dem Betrieb mit an und ist vom Landleben begeistert.

Bleibt nur die Abschlussfrage: Steigt Louis Stange noch auf Leitern? „Ja, leider“, schießt es aus Schwester Pia heraus. Und der junge Landwirt ergänzt ganz nüchtern und realistisch: „Klar, das bleibt auf einem Hof nicht aus. Aber ich bin definitiv vorsichtiger. “

  • Einen Tag nach dem Besuch der LAND & FORST ist die Verschraubung in Louis Stanges Nacken gebrochen, sodass er erneut operiert werden musste. Er konnte aber nach einigen Kliniktagen wieder nach Hause, und es geht ihm den Umständen entsprechend gut.
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